Rue de la Montagne Sainte Geneviève
Die Rue de la Montagne Sainte Geneviève führt aus den Niederungen der Rue des écoles hinauf zum Panthéon.  Das unter Ludwig dem Fünfzehnten errichtete Gebäude wurde nach der französischen Revolution zu einer nationalen Gedenkstätte, was es bis heute als Grabstätte berühmter Franzosen von Marie Curie bis Emile Zola wahrlich geblieben ist. Die Kuppel des Panthéon thront hoch über den Instituten und Fakultäten derSorbonne, die heute das 5. und 6. Arrondissement wie ein Netzwerk durchziehen und eine Art Kontakt zwischen den hier Bestatteten und ihren Wirkungsstätten herstellen.

Der Doktor machte diesen Aufstieg – und eben auch nicht ganz bis zum Gipfel aus einem weit prosaischeren Grunde. Er hatte dort die einfach-ehrliche Küche der Ecurie, eines Bistros dieses Viertels und seiner Studenten, schätzen gelernt, in dem einst die Wirtin Marie das Regiment führte und für Gäste wie Personal eine Art Institution darstellte. Besonders an Sommertagen waren die wenigen Außentische beliebt. Zur Begrüßung gab es eine Sangria aufs Haus. Das Innere war, vor allem im Untergeschoß, eng und nieder. Was man in Schlechtwetterzeiten notgedrungen gerne in Kauf nahm.

Besonders gerne erinnert sich der Doktor an jenen Sommerabend, an dem die studentischen Bewohner der um die Ecke bei den Außenplätzen abbiegenden Rue Laplace kurzerhand die gesamte Straße gesperrt hatten und den Fahrweg für eine lange abendliche Tafel genutzt haben. Stilvoll gedeckt mit Champagner und Blumen. Ein großes gemeinschaftliches Event, das allen Außenstehenden nur zu natürlich und passend vorkam. Das waren genau die Gefühle und Situationen, die unserem Doktor sofort schmeckten und auf die er ansprach. Er war eigentlich mit Kollegin Renée zum abendlichen Snack gegangen. Doch nachdem die nur gelangweilt auf das studentische Happening schaute, verabschiedete man sich relativ früh, dass sich der Doktor – nach einem kleinen Umweg von der anderen Seite – nun mit einer unterwegs erstandenen Flasche Champagner zu der Gruppe gesellen konnte. Welch ein Zufall: ein guter Tropfen, der laue Abend und eine nette Gesellschaft. „Glückwunsch, ihr lebt in meiner Lieblingsgegend.“ Und schon entspann sich eine intensive Diskussion über die Arbeit in den benachbarten Instituten, die vielen lästigen amerikanischen Touristen in der Gegend, über die Veränderungen der Stadt und die Frage, was eigentlich das wichtigste im Leben ist. „Wenn Du später kein Geld hast, nützt Dir das alles nichts.“ „Aber wenn Du nur Geld hast, ist es auch nichts“.  Es wurde ein lustiger Abend und gegen später musste sich der Doktor regelrecht losreißen, um noch vor Mitternacht ein kleines Quartier am Rande von Saint Germain zu erreichen. „Bist du jetzt schon alt?“, brummelte er vor sich hin, „aber solange du noch so mitmachst, fällst du nicht aus dem Raster. Alles gut.“ „Ach je, morgen kommen ja die Kunden, die mit mir abends zum Empfang bei der Handelskammer wollen. Hätte ich jetzt beinahe vergessen.“ Wieder dieser typische Konflikt zwischen Job und Vergnügen.

Man würde sich in der 33 Rue du Faubourg Saint-Honoré treffen, nahe der Madeleine in einem dieser repräsentativen Gelasse, in denen man diese typischen Pariser Abende mit einem oder meist mehreren Gläsern Champagner in der Hand zu überstehen hatte. Ansonsten viel trockenes Zeug, wie diese Schwärme von Rechtsanwälten und rechtskundigen Beratern, die einem mit der Kompliziertheit französischen Rechts noch ein Extra-Honorar aus der Tasche zu ziehen versuchten.
„Viel déjà-vue“.

Originaltext aus @LOST POSTINGS
Klaus-Jürgen Holstein
Paris Hamburg
ISBN: 9783752828115