Pickhuben
Es war mal wieder später geworden als geplant. Jörn Jensen hatte die Angewohnheit, wann immer es möglich war, abends noch einmal auf einen Sprung im Freihafen vorbeizuschauen und nachzusehen, ob im Lagerschuppen alles in Ordnung sei. Er liebte es, in der abendlichen Kühle noch einmal den Geruch der Gewürze, die seit Jahrzehnten hier und in der Nachbarschaft lagerten, aufzusaugen und zu genießen. Bereits als er näher kam bemerkte er trotz der Dämmerung, dass die Tür des Lagerraums nicht verschlossen war. „Hat das jemand vergessen, oder was?“ Misstrauisch sah er sich um. Auf den ersten Blick war nichts Besonderes zu entdecken. Die wenigen Bigpacks standen wie immer rechts am Eingang nahe der Ladeluke. Alles in Ordnung. Im Raum für die Analytik der Ware und die Rückstellmuster lagen allerdings auf dem Tisch ein paar Päckchen herum, die normalerweise aufgeräumt sein sollten.

„Komisch – wer hatte sich da wohl was zu schaffen gemacht?“ Das konnte Jörn Jensen nur zusammen mit jemandem auf der Qualitätssicherung klären, denn in den Details dieser Muster kannte er sich nicht aus. Aber selbst wenn diese abgepackten Proben nichts zu sagen hätten, Unordnung konnte Jörn Jensen sowieso nicht leiden. Aber das wäre dann morgen zu klären.

Weil er hier jetzt nichts mehr ausrichten konnte, verschloss er den Eingang wieder sorgfältig und gönnte sich für den Rückweg nach Nienstedten noch einen kleinen Umweg über das Portugieserviertel und landete auf einen Absacker im El Paisa gegenüber der englischen Kirche. Das war ein Ort, der garantiert nicht von Touristen übervölkert war.

Nachdem Jörn Jensen sein Rotweinglas in nachdenklichen Schlücken fast geleert hatte, kam die Wirtin mit einem Krug an seinen Einzeltisch. „Trinken wir auf unseren letzten Tag. Morgen müssen wir schließen. Ein sogenannter Investor hat den ganzen Komplex aufgekauft. Und wir sind draußen. Auf das, was kommt… Vielleicht machen wir später irgendwo in Pinneberg oder Elmshorn wieder neu auf.“

„Kaufmannsschicksal“ dachte Jörn Jensen „das Leben in unserer Stadt ist hart geworden. Wettbewerb mit allen nur denkbaren Mitteln.“ Vielleicht hatte jemand auch bei ihm etwas vor… Er musste unwillkürlich an diese Beobachtung bei sich im Lager denken. „Man sollte auf der Hut sein.“ „Gibt es irgendjemand, der mir etwas Böses will oder der glaubt, noch eine offene Rechnung mit uns zu haben?“ schoss es immer durch seinen Kopf. Natürlich gab es auch Konkurrenten in seiner Branche. Aber so hart waren die Bandagen bislang unter den Exporteuren der Hansestadt nicht.

Originaltext aus @LOST POSTINGS
Klaus-Jürgen Holstein
Paris Hamburg
ISBN: 9783752828115