Essen, Essen Oldenburg
Da saß er auf diesem Provinzbahnhof in Essen Oldenburg, ausgestattet wie die Holzklasse und wartete – der schlaue Meier.

Wir nennen ihn einfach so, wie ihn die Schulkameraden seinerzeit in der Mittelschule nannten. Damals traf er zum ersten Mal auf ein breiteres Publikum seiner Region. Zuvor hatte er vier Jahre in der kleinen konfessionellen Grundschule verbracht, archaisch behütet zwischen dem strengen – aber im Geist total laiizistischen – Lehrer und dem Pfarrer.

Schlau war er. Das Lernen fiel ihm leicht. Aber immer wieder wird noch ganz anderes Lernen verlangt. Das hatte er gerade wieder zu spüren bekommen. Die etwas verkorkste Fahrprüfung hatte er hinter sich, aber er würde auch danach noch viel Zeit auf Bahnhöfen zubringen – nur das wusste er noch nicht. Gut so. Endlich unabhängig von dem Landleben im Emsland – zumindest in Sachen Flexibilität. In Sachen Prüfungen war er jetzt schon deutlich weiter als Vater Karl. Den hatte der erste Weltkrieg am Schulabschluss gehindert – und selbst ein Auto zu bedienen war auch nicht sein Ding. Hätte ihn auch nervlich vermutlich überfordert. Irgendwie passte Karl nicht in die moderne Welt: er schrie ins Telefon, weil er glaubte sonst nicht verstanden zu werden, hatte stets panische Angst zu spät zu sein und fühlte sich wohl eher als der unverstandene Künstler. Allerdings hat er es auch nie probiert, so zu leben wie seine Vorbilder mit einem Atelier in Paris ohne wirklichen doppelten Boden. Spätestens nach der Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg hatte Karl aufgehört, überhaupt an derartige Experimente zu denken. Dabei hatte ihn der Krieg ja sogar nach Frankreich geführt, leider nicht nach Paris, aber ins Zentralmassiv westlich von Lyon. Dort verstand es Karl immerhin, selbst unter widrigen Verhältnissen Papier zu erbetteln, etwas Essen zu organisieren und zu zeichnen. Aber viel mehr geschah dann nicht. Gegen Ende der Goldenen Zwanziger hatte Karl sich von den Impressionisten faszinieren lassen, in Brauschweig und Hildesheim vom Künstler mit eigenem Atelier geträumt und statt der weit bis in das späte Mittelalter belegten Familientradition zu folgen, entweder Pfarrer oder Zahnarzt zu werden. Umgeben von all den Aktmodellen der Werkkunstschule verliebte sich Karl auch noch ausgerechnet in Bernd, einen Mann. Und wenn er eines wusste, dann das, dass dies für den Erstgeborenen des Pfarrers nicht das war, was man erwartete. In Sachen Frauen war Karl unerfahren. Ehrlich gesagt reizten sie ihn auch nicht. Seine Mutter saß seit seiner Geburt gelähmt im Rollstuhl und machte nicht gerade den Eindruck von wahrer Lebensfreude. Dinge, über die man besser nicht nachdenkt und erst recht auch nicht spricht. Und dann noch das Gerede der Leute in ihrem kleinen Kirchdorf. Für die ist das Schützenfest der höchste Feiertag gleich nach dem örtlichen Feuerwehrfest. Und irgendwie mögen die Leute Karls Schwester Hanna und reden so allerhand über sie. Karl fehlt dazu die Fantasie. Wenn Karl das heimische Wohnzimmer unter dem Vorwand zu malen in eine Art Atelier verwandelt hatte, dann spürte man, was ihn vielleicht antrieb, konzentriert, sorgfältig und nur noch auf das eigene Werk fixiert. Allerdings war der Rest schwer zu teilen und verstanden fühlte er sich auch nicht.

Einen Hauch seiner Kreativität versprühte er dann eher abends, wenn er mit dem einen oder anderen Glas des weißen Bordeaux die Vergangenheit wiederauferstehen ließ. Dort war er in seinem Element.

Die alte Bahnhofsuhr zeigte, dass es immer noch mindestens 15 Minuten wären, bis der Zug käme. Aber welcher Zug war schon pünktlich? Ja, der Meier musste lächeln, wenn er an Karl dachte. Natürlich lehnte er sich gegen ihn auf. Aber war er selbst nicht seinem Vater auch irgendwie ähnlich, wenn er sich seine Ufer und Ziele suchte, sich durch Studien beeindrucken und mitreißen ließ und in keine der vorgefertigten Erwartungen wirklich passen sollte? Trieben ihn selbst nicht auch Begeisterung und Interesse mehr durchs Leben als irgendein nachvollziehbarer Plan? Begeisterung an vielen Ecken! Sein Dritte-Welt-Engagement: einerseits im Kopf und auch emotional mit den ins Mark gehenden Schilderungen lateinamerikanischer Studienkollegen von Verfolgung, Haft und Folter, dann wieder die reizvoll diffus anziehenden Mitstreiterinnen. Nicht wirklich ein Plan. Es zündet, aber man weiß nicht, wohin es führt. Genau genommen waren es wohl immer Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen, auf deren Fährte sich der schlaue Meier setzte. Ob das wirklich immer schlau war? Der Gedanke wäre ihm damals wohl erst gar nicht gekommen.

Originaltext aus @LOST POSTINGS
Klaus-Jürgen Holstein
Wie das Leben schmeckt
ISBN: 978-3-7528-8462-3